VöV-Karte wird ersatzlos abgeschafft

St. Gallen, 17. Januar 2023

Die nationalen Sehbehindertenorganisationen kritisieren den Entscheid der Branchenorganisation «Alliance SwissPass», die «Ausweiskarte für Blinde und Sehbehinderte im öffentlichen Nahverkehr» per Ende 2023 abzuschaffen. Diese wurde ursprünglich aufgrund der fehlenden Barrierefreiheit von Billettautomaten eingeführt. Trotz der Einwände der nationalen Blinden- und Sehbehindertenorganisationen setzt die öV-Branchenorganisation keinerlei Ersatzmassnahmen für Menschen mit Sehbehinderung im fortgeschrittenen Alter oder mit fehlender technischer Affinität um. Sie riskiert damit die Exklusion einer vulnerablen Bevölkerungsgruppe.

Da die Billettautomaten für Menschen mit Sehbehinderung nicht zugänglich sind, gibt es die «Ausweiskarte für Blinde und Sehbehinderte im öffentlichen Nahverkehr» – umgangssprachlich auch als VöV-Karte bekannt. Diese Karte berechtigt betroffene Menschen, die Transportmittel des öffentlichen Nahverkehrs vieler Schweizer Städte zu nutzen. Wegen den heute existierenden digitalen Lösungen entschied die Branchenorganisation «Alliance SwissPass», welche die Interessen der Tarifverbünde vereint, die Ausweiskarte für Blinde und Sehbehinderte im öffentlichen Nahverkehr abzuschaffen. Mit ihrem Vorhaben traten sie an die nationalen Blinden- und Sehbehindertenorganisationen heran, welche sich in der Begleitgruppe «Menschen mit Sehbehinderung im öffentlichen Verkehr» (BG SöV) organisieren.


Pragmatische Ersatzmassnahmen fanden keinen Anklang
Das Blinden- und Sehbehindertenwesen kann die Beweggründe von Alliance SwissPass und den Tarifverbünden grundsätzlich nachvollziehen. Hervorzuheben ist jedoch, dass Menschen mit Sehbehinderung in ihrer Mobilität alternativlos auf den öffentlichen Verkehr angewiesen sind. Deshalb müssen Dienstleistungen, Infrastruktur und Transportmittel für Betroffene autonom nutzbar sein. Durch die Abschaffung der Ausweiskarte für Blinde und Sehbehinderte im öffentlichen Nahverkehr werden Reisende ausgegrenzt, welche aufgrund ihres Alters oder der fehlenden technischen Affinität die digitalen Möglichkeiten für den Erwerb eines Fahrausweises nicht nutzen können. Alliance SwissPass argumentiert, dass Menschen mit Sehbehinderung zusätzlich telefonisch Tickets erwerben können. Die nationalen Sehbehindertenorganisationen weisen darauf hin, dass diese Möglichkeit nicht schweizweit angeboten wird, und somit eine spontane Nutzung des öffentlichen Verkehrs nicht in allen Fällen gegeben ist.
In den Gesprächen mit Alliance SwissPass haben die Verantwortlichen der BG SöV spezifisch auf die besonderen Bedürfnisse derjenigen Menschen mit Sehbehinderung, welche die digitalen Dienstleistungen nicht nutzen können, hingewiesen. Den zuständigen Personen der Branchenorganisation wurden verschiedene Lösungsansätze präsentiert, um die drohende Exklusion dieser Gruppe abzufedern. Jedoch fanden die vorgeschlagenen pragmatischen Ersatzmassnahmen kein Gehör. Die ursprünglich von Alliance SwissPass selbst vorgeschlagene Ausgabe von Tageskarten an Menschen mit Sehbehinderung wurde schliesslich als zu bürokratisch beurteilt. Auch empfanden die Tarifverbünde die Einführung einer Vergünstigung analog dem ermässigten Generalabonnement für Reisende mit Behinderung, wie es die SBB vorbildlich anbietet, als zu aufwändig.


Neue Hürden für Menschen mit Sehbehinderung
Mit ihrer Entscheidung, die Ausweiskarte ersatzlos abzuschaffen, nimmt die Alliance SwissPass neue Hürden in der Mobilität für Menschen mit Sehbehinderung bewusst in Kauf. Durch adäquate Ersatzmassnahmen hätte sie eine spontane Nutzung des öffentlichen Verkehrs weiterhin ermöglichen können. Es ist davon auszugehen, dass der Anteil der über 70-Jährigen, die eine Ausweiskarte besitzen, rund 50 Prozent beträgt. Exemplarisch kann dies an den Städten St. Gallen und Lausanne aufgezeigt werden, wo 99 von insgesamt 199 Karteninhaberinnen und -inhabern beziehungsweise 442 von total 786 Karteninhaberinnen und -inhabern über 70 Jahre alt sind. Menschen dieses Lebensalters können im besonderen Mass von der Abschaffung der VöV-Karte betroffen sein, wobei eine fehlende technische Affinität auch altersunabhängig auftreten kann. Auch wenn das Blinden- und Sehbehindertenwesen die grundsätzlichen Überlegungen nachvollziehen kann, ist die fehlende Bereitschaft zur Inklusion ernüchternd. Das Blinden- und Sehbehindertenwesen wird sich deshalb weiterhin für Alternativen und punktuelle Lösungen in den verschiedenen Tarifverbünden einsetzen.

Kontakt: Nina Hug, Co-Leiterin Marketing und Kommunikation SZBLIND, Tel. 078 843 44 93, hug@szblind.ch